mandag 8. mai 2017

Ursachen für den mangelhaften Transfer wissenschaftlicher diagnostischer Erkenntnisse in die Praxis

Ursachen für den mangelhaften Transfer wissenschaftlicher diagnostischer Erkenntnisse in die Praxis

  • häufig eine misslungene Kommunikation als Ursache für unzulängliche Qualitätssicherung
  • für Bereich der Personalentscheidungen erhofft man sich Abhilfe von einer wirtschaftlichen Aufbereitung der wissenschaftlichen Erkenntnisse
  • aus der Perspektive der Handlungssteuerung ist vor allem das Feedback bedeutsam, das Diagnostiker in der Praxis bekommen oder nicht bekommen
  • darüber hinaus ist zu analysieren ob Wissenschaft und Praxis ihre Entscheidungen an den gleichen Kriterien ausrichten → handlungsleitende explizite sowie implizite Kriterien zu betrachten

das Kommunikationsproblem und seine vermeintliche Überwindung durch eine wirtschaftsorientierte Aufbereitung der wissenschaftlichen Erkenntnisse

  • like it or not, the language of business is dollars, not coefficients“ → Innovationen im Bereich der Diagnostik sind weniger greifbar als technische Innovationen
  • wissenschaftliche Publikationen, in denen die für den Bereich der Personalentscheidungen relevanten Erkenntnisse aufbereitet werden, sind u.a. geprägt durch statistische Kennwerte (z.b. Effektstärken in Form von Korrelationskoeffzienten) → entsprechen nicht den in der Wirtschaft gebräuchlichen Kennwerten
  • Kosten-Nutzen-Formeln werden zunehmend verfeinert und Parameter einbezogen, und somit die Dynamik des Organisationsgeschehens berücksichtigt
  • Kosten spielen bei der Entscheidung für ein Personalauswahlverfahren nur eine untergeordnete Rolle → Kosten-Nutzen-Analysen zeigen anhand von konkreten Beispielen auf, welchen enormen Vorteil es mit sich bringt, valide Personalauswahlverfahren einzusetzen → die Entscheidungen der Praktiker bleiben davon aber weitestgehend unbeeinflusst

Handlungstheoretische Einbettung: die Bedeutung des (fehlenden) Feedbacks

  • es stellt sich die Frage, ob in der Praxis überhaupt ein Qualitätsmangel wahrgenommen wird und somit ein Veränderungsbedürfnis besteht → wichtig ist ein Feedback über die Diskrepanz zwischen Ist- und Sollwert
  • ein Ziel definiert einen Leistungsstandard (Sollwert, Idealzustand) und motiviert ein gerichtetes Verhalten
  • Sollwert wird handlungsleitend wenn man sich selbst als wirksam erlebt, man eine Diskrepanz zwischen Ist- und Sollwert und somit einen Bedarf wahrnimmt → erfordert ein Feedback
  • erst wenn Feedback vorliegt, kann entsprechend dem Feedback-Loop Modell ein kontinuierliches Monitoring stattfinden, eine Kontrolle ob das Ziel erreicht wurde
  • im nächsten Schritt kann der Einsatz zielrelevanter Mittel zur Minimierung der Diskrepanz zwischen Soll- und Ist-Wert initiiert werden → derartige Handlungen müssen in einem aufwendigen Prozess koordiniert und so lange aufrechterhalten werden bis die Diskrepanz beseitigt ist
  • eine Person, die keine Rückmeldung über die Angemessenheit ihrer Vorgehensweisen, Beurteilungen und Entscheidungen erhält, kann aus ihren Erfahrungen nicht lernen
  • insbesondere bei Entscheidungsaufgaben wirkt ein Feedback leistungssteigernd, bei fehlendem Feedback bleibt die Leistungssteigerung aus
  • die Existenz von Feedback gehört neben der Eigenverantwortung und dem herausforderndem Charakter der Aufgabe, zu den Rahmenbedingungen die gegeben sein sollten, damit ein vorhandenes Leistungsmotiv in Leistungsverhalten umgesetzt wird
  • Feedback über die Qualität der Entscheidung muss mit den diagnostischen Eingangsinformationen verknüpft werden
  • ohne Feedback ist es aber nicht möglich, self-regulatory-skills zu entwickeln, selbst wenn man über viele Jahre an Erfahrung verfügt
  • Diagnostik als selbstregulative schematische Abfolge des Vergleichs von Soll- und Istwerten einerseits und Eingriffen in das System andererseits
  • Fortschritte sollen in Form von Feedback-Schleifen in das Bewusstsein gelangen
  • Prozessgestaltung sollte sich also an dem klassischen TOTE-Konzept orientieren (Test, Operate, Test, Exit)
  • erst durch das Feedback über die Qualität der Diagnose kann die Qualität der Arbeit zum Leistungsanreiz werden
  • Leistungsmotivierte Menschen versuchen
    • ihre eigenen bisherigen Leistungen zu übertreffen
    • nach Erfolg zu streben
    • andere zu übertreffen
  • ohne Feedback über die Qualität der Diagnose fehlt der Leistungsanreiz für die Diagnostiker → Leistungsanreiz fehlt, weil durch fehlendes Feedback Qualität eine astrakte, nicht registrierbare Größe bleibt → weder positive, noch negative Effekte
  • DIN 33430 als Grundlage für eine Qualitätssicherung durch Feedback → Feedback erfolgt über Lizenzen, Zertifizierungen, Checklisten
  • die DIN 33430 selbst definiert Qualität als Beschaffenheit und bezieht sich auf konkrete Qualitätsforderungen
  • Grundprinzip besteht darin, dass die geforderten Qualitätsmerkmale gemessen werden können, so dass die Erfüllung / Nichterfüllung im Sinne des bisher beschriebenen Feedback-Systems bestimmt werden kann

für die Praxis relevante Entscheidungskriterien hinsichtlich der Gestaltung der Diagnostik

  • Berücksichtigung der Bedingungen unter denen die Praktiker arbeiten → explizite Kriterien, implizite Kriterien
  • Explizite Kriterien
    • Praktiker berücksichtigen mehrere Kriterien simultan → mehrere, sich teilweise widersprechende Entscheidungskriterien
    • in der Wissenschaft hat Validität das Primat unter den Kriterien
    • multiattributive Nutzenmodelle stellen eine vielversprechende Weiterentwicklung des Kosten-Nutzen-Ansatzes dar
    • bei diesen Ansätzen ist es möglich, mehrere Kriterien / Attribute in der Nutzenkalkulation zu berücksichtigen (z.b. Validität einerseits und Fairness andererseits)
    • Qualitätskriterien der Praxis sind
      • Schnelligkeit
      • Praktikabilität
      • Einsatzhäufigkeit
      • soziale Akzeptanz (besonders in bewerberorientierten Märkten, wo es schwer ist Personal zu bekommen)
    • Bezeichnung der „sozialen Validität“ ist fachlich problematisch, da das Bezeichnete nicht mit der (Fach)Bedeutung des Wortes in Einklang steht, strategisch ist der Begriff geschickt gewählt → im Gegensatz zu den erst langfristig zur Verfügung stehenden Informationen über die prognostische Kriteriumsvalidität können Akzeptanzbefragungen unmittelbar durchgeführt werden, verlangen also keinen „Belohnungsaufschub“
    • Verfahren werden eingesetzt weil sie praktikabel und sozial akzeptiert sind, nicht weil sie valide sind
  • Implizite Kriterien
    • Einstellungen werden nicht unmittelbar von Reizgegebenheiten einer Situation oder von Sachargumenten gesteuert, sondern zunächst verarbeitet und zu einer Kognition integriert
    • neben der objektiven Realität existiert die subjektive Realität → der Mensch konstruiert sich seine Welt
    • neben differentiell-psychologischen Aspekten sollten bei der Erklärung auch mikropolitische Aspekte der Organisation berücksichtigt werden → „lokale Theorien“ implizites Wissen und Ziele innerhalb einer Organisationskultur und Gesellschaft
    • unstandardisierte und intransparente Verfahren vereinfachen die Realisierung impliziter Ziele
    • lokale Theorien“ sind die in einer Organisation von einer Mehrheit geteilten und in der Regel nicht in Frage gestellten Vorstellungen und Überzeugungen hinsichtlich der für die gemeinsame Arbeit relevanten Ausschnitte der organisationalen Wirklichkeit
    • man kann zischen den „espoused theories“ (öffentliche Leitbilder, Ziele, Werte) und „theories in use“ unterscheiden
    • Blick auf die impliziten Ziele fokussiert den „Verwertungszusammenhang“
    • angenommen den „theories in use“ zufolge bestehen in einer Organisation Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen ist es denkbar dass bereits die Anforderungsanalyse so gestaltet wird, dass bestimmte Gruppen bei der Personalauswahl weniger Chancen haben
    • wahrscheinlicher ist es aber, dass das Anforderungsprofil lediglich die „espoused theories“ wiedergibt, und keine Vorurteile wiederspiegelt
    • es ist unter diesen Umständen weder verwunderlich, noch irrational, dass die Organisation ein vergleichsweise interpretationsoffenes und intransparentes Personalauswahlverfahren einem standardisierten, transparenten Verfahren vorzieht → Intransparenz schützt vor Kritik
    • intransparente Verfahren stehen seltener im Verdacht der „Unfairness“, da nichts über die Verfahren bekannt ist, ist auch nicht kritisches bekannt, so dass die Wahl intransparenter Verfahren fehlerhaft als Beitrag zur Risikominimierung angesehen werden kann
    • AGG (Allgemeines Gleichstellungs Gesetz) sieht für den Arbeitgeber eine Rechtspflicht zur Begründung seiner Auswahlentscheidung vor → Voraussetzung hierfür ist ein gut dokumentiertes, nachvollziehbares Verfahren
    • Standardisierung weckt ein kollektives Interesse, welches durch die Personalvertretung wahrgenommen werden kann
    • Kurzfristige Erfolge sind oft wichtiger als langfristige Qualität

dem Wissenstransfer abträgliche Eigenschaften und Ziele einzelner Entscheider

  • Individuell differentielle Perspektive → individuelle Personenmerkmale können sich als Hindernis für den Wissenstransfer von der Wissenschaft zur Praxis auswirken
  • das Dispositions-Konzept von Junge et al. Identifiziert 7 veränderungsrelevante persönliche Dimensionen
    • locus of control
    • generalized self-efficacy
    • self-esteem
    • positive affectivity
    positive self-concept
    • openness to experience
    • tolerance of ambiguity
    • risk aversion
    risk tolerance
  • risk tolerance weist konzeptionelle Übereinstimmungen mit „resistance to change“ auf → Menschen mit einer hohen Ausprägung dieser Dimension beharren auf Routinen, reagieren emotional angespannt auf Veränderungen und sind in ihrem Denken kurzfristig orientiert und rigide → führt dazu dass Innovationen abgewehrt werden
  • Organisationen als „politische Arena“ für individuelle Interessen → mit Personalauswahl und Eignungsbeurteilung sind Aspekte der Machtausübung verbunden → Privilegien werden verteidigt
  • den psychologischen Erkenntnissen zufolge reagieren Personen auf von außen vorgenommene Initiativen, ihre Entscheidungsfreiheiten einzuschränken, mit Reaktanz
  • freie“ Personalauswahlverfahren machen mehr Spaß und schützen vor Verantwortungsübernahme
  • Interviews sind aufgrund ihrer Interaktivität abwechslungsreich, die Informationsverarbeitung erfolgt unmittelbar und nicht über einen als „black box“ zwischengeschalteten Test, die Rolle des Interviewers ist attraktiver als die Rolle des Testverantwortlichen
  • intransparente, schlecht dokumentierte Verfahren schützen vor Verantwortungsübernahme → ob ein Test falsch ausgewertet wurde lässt sich eindeutig nachvollziehen, die Verantwortlichen können zur Rechenschaft gezogen werden
  • ob ein Fehler in einem nicht dokumentierten Interview gemacht wurde, lässt sich hingegen kaum nachvollziehen, so dass im Falle eines Misserfolges niemand verantwortlich gemacht werden kann

verminderte Einflussnahme der Wissenschaft aufgrund der einseitigen Grundlagenorientierung der universitären Psychologie

  • praxisorientierte Arbeiten sind in der grundlagenorientierten psychologischen Wissenschaft schlecht angesehen
  • in der Grundlagenwissenschaft werden idealisierte Situationen angestrebt, die unter störungsfreien Bedingungen eine größtmögliche Kontrolle und planmäßige Variation der Variablen ermöglichen
  • im Gegensatz zur Naturwissenschaft, in deren Glanz sich die psychologischen Grundlagenwissenschaften sonnen, werden die empirischen Arbeiten der Anwendungsfächer diesen Anforderungen nicht gerecht
  • der Einsatz von diagnostischen Verfahren im Feld erfordert Kompromisse, da der Klinik-, Schul-, Betriebsalltag nicht gestört werden darf
  • die Pflicht auf englisch zu publizieren erschwert den Wissenstransfer in die diagnostische Praxis → Praxis nimmt eher in Nationalsprache verfasste Publikationen zur Kenntnis
  • im Gegensatz zur Naturwissenschaft geht es in der angestrebten Diagnostik nicht um universelle Gesetze sondern um zielorientiertes Handeln in einem definierten und sprachgebundenen Anwendungskontext
  • Diagnostik ist sprach-, kultur- und kontextgebunden
  • Einseitige Ausrichtung auf Internationalität bedeutet indirekt eine Ausgrenzung bestimmter inhaltlicher Themen aus dem wissenschaftlichen Fokus
  • es besteht ein Mangel an geeigneten Publikationsforen für praxisorientierte diagnostische Arbeiten → verknüpft mit Internationalisierung

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